Ein Bericht von unserer Bildungsreise im September 2019.
Im September 2019 reiste erstmals eine Gruppe der Heinrich Böll Stiftung Hamburg nach Nordirland und besuchte dort die Städte Belfast, Armagh sowie (London)Derry, um sich vor Ort einen Eindruck davon zu machen, wie das durch einen jahrzehntelangen blutigen Konflikt geprägte kleine Land nun die Situation erlebt, vermutlich bald nicht mehr zur Europäischen Union zu gehören. Hier ein paar Eindrücke:
Geplant und geleitet wurde der Bildungsurlaub von unserem Vorstandsmitglied Linda Heitmann gemeinsam mit Kellie O‘Dowd von den Grünen in Nordirland. Die wesentlichen Fragen, die bei der Programm-Zusammenstellung im Vordergrund standen, waren, welche Auswirkungen eine mögliche harte Grenze im Zuge des Brexit für Nordirland konkret hätte und was die nordirische Bevölkerung eigentlich möchte.
Klare Antworten auf diese Fragen gibt es natürlich, wie immer, nicht. Aber die Gruppe konnte viele spannende Eindrücke gewinnen, die gezeigt haben: das Land fühlt sich von Westminster vielfach vergessen, die Gesellschaft hier hat weiterhin tiefe Gräben zu überwinden, wie es nach dem Brexit weitergeht, weiß niemand und das Land ist eine der ärmsten Regionen im Vereinigten Königreich mit sichtbarer Perspektivlosigkeit in einigen Wohnvierteln sowohl der nationalistischen (katholischen), als auch der unionistischen (protestantischen) Communities.
Seit 1998 herrscht in Nordirland nach einem etwa 30 Jahre andauernden brutalen Konflikt mit über 3700 Toten weitgehend Frieden. Voraussetzung dafür war damals das Karfreitagsabkommen, das unter anderem ein Regierungssystem festschrieb, in dem es zwei gleichberechtigte Regierungschef*innen geben muss – eine*n aus der stärksten Fraktion der Unionisten und eine*n aus der stärksten Fraktion der Nationalisten. Auch kommen Entscheidungen nur zustande, wenn mindestens 50% der einen Community und mindestens 50% der anderen Community zustimmen. Sämtliche Abgeordnete müssen sich daher zu Beginn einer Legislatur als „Unionisten“, „Nationalisten“ oder „andere“ registrieren, aber die Stimmen der „anderen“ zählen in der Folge des Systems de facto kaum.
Seit Anfang 2017 arbeitete das nordirische Parlament Stormont nicht mehr, da die beiden größten Fraktionen – die recht radikalen Kräfte Sinn Fein (nationalistisch) und die DUP (unionistisch) die Zusammenarbeit verweigern. Die Gründe, die die Hbs-Gruppe dafür während der Reise gehört hat, sind sehr unterschiedlich. Vordergründig geht es um die Frage, ob Irisch offizielle zweite Landessprache werden soll. Hintergründig geht es auch um Fragen von Abtreibung, gleichgeschlechtlicher Ehe und Vorwürfe von Geld-Veruntreuung. Die Regierung Nordirlands erfolgt seit 2017 direkt durch Westminster, mögliche Neuwahlen sind bisher nicht terminiert. (aktuelle Anmerkung: seit den Neuwahlen in Großbritannien im Dezember 2019 ist das Parlament inzwischen wieder aktiv)
In allen Institutionen und Organisationen, die die Gruppe der HBS besucht hat, war eine große Frustration über das nicht arbeitende Parlament herauszuhören. Das Parlamentsgebäude selbst konnte von der Gruppe besichtigt werden und zwei der Abgeordneten standen für ein spannendes Gespräch zur Verfügung, doch die Gewalt, über Gesetzesvorhaben konkret etwas zu bewegen oder auch Debatten auszulösen, hatten sie seit 2017 nicht mehr.
In Westminster sitzen derweil nur per Mehrheitswahlrecht bestimmte Abgeordnete aus Nordirland. Jene von der DUP (Unionisten) gehören zu den stärksten Gegnern eines Backstops. Und jene von Sinn Fein (nationalistisch) nehmen ihre Sitze seit Jahrzehnten nicht wahr, weil sie Großbritannien als Regierung über Nordirland nicht für legitimiert halten.
Die Gesellschaft in Nordirland ist weiterhin stark gespalten. Etwa 94% aller Kinder besuchen entweder eine katholische oder nationalistische Schule, nur 6% lernen gemischt. Auch die meisten Wohnviertel sind strikt getrennt, in vielen erkennt man über britische oder irische Flaggen sofort, welcher Seite sich die Bewohner*innen zugehörig fühlen. Seit 1998 hat sich die Zahl der so genannten „peace walls“ - der Zäune zwischen den Wohnvierteln - noch vermehrt. Die Selbstmordrate ist eine der höchsten in Europa.
Wenn es irgendwann zu einer harten Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland kommen sollte, wird vieles in Nordirland vermutlich deutlich teurer, die Armut dadurch noch größer. Nordirland exportiert derzeit z.B. Milch in die Republik Irland, die dort zu Butter verarbeitet und dann wieder eingeführt wird. Im täglichen Leben stehen die Menschen insbesondere in den Grenzregionen vor riesigen Unsicherheiten. Vor allem jene, die täglich pendeln, wissen nicht, ob ihre Jobs erhalten bleiben. Die Banken vergeben kaum Kredite, da sie nicht wissen, wie sich das Pfund entwickelt und ob die Leute ihre Job behalten. Schicken sie ihre Kinder auf die Uni in Dublin oder anderswo in der irischen Republik, wissen die Menschen nicht, ob sie künftig die deutlich höheren Studiengebühren für „foreign students“ zahlen müssen oder nicht.
Über 21.000 Gesetze und Verordnungen, die bisher über europäisches Recht galten, fallen künftig vermutlich weg und müssen durch nationales Recht ersetzt werden oder auch nicht. Gerade Frauen-, Menschenrechts- und Umweltschutzorganisationen befürchten, dass sich die Bedingungen für sie dadurch deutlich verschlechtern. Speziell was Wasser- und Luftqualität angeht, ist es ein Problem, wenn auf einer Seite niedrigere Standards herrschen, denn das Wasser der Flüsse fließt ja trotzdem. In Bezug auf EU-Fördergelder vor Ort hat London versprochen, diese künftig 1:1 zu ersetzen. Wirklich sicher ist sich dessen aber vor Ort niemand.
Im Rahmen des Karfreitagsabkommens wurde auch festgeschrieben, dass die Menschen in Nordirland zwischen irischer, britischer oder beiden Staatsangehörigkeiten wählen können. Ob jene, die „irisch“ sind und in Nordirland leben deshalb aber künftig europäisches Recht einklagen können, ist unklar und wird derzeit geprüft – und das, nachdem alle mit dieser Regelung 20 Jahre glücklich waren und so etwas wie Normalität einzukehren schien.
Die nordirischen Grünen sind mit ihren 2 Abgeordneten im Parlament als „andere“ registriert und alle aktiven Grünen, die die Gruppe der HBS treffen konnte, haben sehr klar gemacht, dass sie die gesellschaftliche Spaltung leid sind. Aber auch bei anderen Akteuren wie beispielsweise den aktiv organisierten „Landfrauen“, die sich unabhängig von Konfessionen für ihre Rechte stark machen, klang ein Frust darüber durch, wie sehr das Denken in den gesellschaftlichen Kategorien von unionistisch und nationalistisch vielfach den Alltag noch prägt und pragmatische politische Ansätze häufig blockiert.
Sehr viele Menschen in Nordirland haben im Konflikt auch Angehörige durch Angriffe verloren, von denen teilweise bis heute nicht aufgeklärt wurde, wer für sie verantwortlich ist. Trotzdem ist es ein Großteil auch leid, in einem „zementierten“ Parteien- und Gesellschaftsssystem zu leben, in dem kaum eine Partei politische Inhalte, sondern vor allem Zugehörigkeit zu einer bestimmten „Community“ in den Vordergrund stellt.
Wie es mit Nordirland weitergeht, bleibt unklar. 56% der Bevölkerung hatten beim Brexit-Votum für „Remain“ gestimmt. Wie einer der HBS- Gesprächspartner sagte: „In unserer Gesellschaft kann man auf Grundlage solch einer knappen Mehrheit keine Entscheidung aufbauen, ohne dass die andere Seite dagegen rebelliert.“
Eigenständig ist das Land wirtschaftlich wohl nur schwer überlebensfähig, spricht sich eine Mehrheit dafür aus, sich der Republik Irland wieder anzuschließen, so droht möglicherweise neue heftige Gewalt. Zudem wäre das Land die wohl ärmste Region in einem vereinigten Irland und hätte die Angst, auch von einer Regierung in Dublin ‚abgehängt‘ zu sein und dort kaum Gehör zu finden mit den spezifischen nordirischen Anliegen.
Ihren sarkastischen Humor haben die Leute noch nicht verloren, wie auf der Reise immer wieder deutlich wurde. Immerhin. Es bleibt spannend, wie es mit Nordirland weitergeht und die Heinrich Böll Stiftung Hamburg möchte sich darüber auch 2020 wieder vor Ort einen Eindruck verschaffen.