Hamburgs Umgang mit Flüchtlingen oder: Es ruckelt sich zurecht

Anders als Berlin hat Hamburg die Flüchtlingskrise inzwischen gut im Griff. Wenngleich es Kritik und Widerstand einzelner Bürgerinitiativen gibt, ist die Stimmung insgesamt eher unaufgeregt.

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500 Hamburger/innen eröffneten bereits am 1. Mai 2014 ein Willkommenszentrum für Flüchtlinge in einer leerstehenden Schule

Anders als Berlin hat die Hansestadt die Flüchtlingskrise inzwischen gut im Griff. Wenngleich es Kritik und Widerstand einzelner Bürgerinitiativen gibt, ist die Stimmung insgesamt eher unaufgeregt

"Mir fällt das Dach auf den Kopf und meine Nerven sind im Eimer" - mit diesen Worten macht die junge Freiwillige Emma Anfang November auf Youtube auf die unhaltbare Situation am Hamburger Hauptbahnhof aufmerksam. Emma gehört dort zu einem Team von Ehrenamtlichen. Waren es anfangs im September noch 200 dauerhafte Helfer/innen, schrumpft die Zahl binnen Wochen auf 30, dabei ist  der Arbeitsanfall zu diesem Zeitpunkt derselbe.

Monatelang hocken die Freiwilligen an einem kleinen Tisch unter der Haupttreppe am Bahnhof, leisten erste Hilfe für die ankommenden Transitflüchtlinge. Sie besorgen ihnen Tickets für die Weiterreise nach Schweden, bringen sie zum richtigen Gleis, vermitteln sie an Ärzte weiter und weisen ihnen einen Schlafplatz zu. Dabei gelingt ihnen eine logistische Meisterleistung. Jede Nacht versorgen bis zu 1.000 Neuankömmlinge.

Eine moralische Pflicht

Zwar bieten auch Privatpersonen ein Bett für eine Nacht an, doch das reicht bei weitem nicht aus. So springen kurzerhand und über Monate Organisationen wie die Caritas und die arabische Al-Nour-Moschee unweit des Hauptbahnhofes ein. Für deren Vorsitzenden Daniel Abdin ist die Hilfe ein zweischneidiges Schwert. "Einerseits halten wir es als Muslime für unsere moralische  Pflicht, den Flüchtlingen zu helfen, doch andererseits können wir nicht alles allein schultern", sagt er im November. Die Gemeinde trägt fast alle Kosten für die Unterbringung selbst, und die Verhältnisse in den Räumlichkeiten sind prekär. Jede Nacht schlafen dort bis zu 500 Flüchtlinge. Wie die Heringe liegen die Männer dicht an dicht in dem als Gebetsraum umfunktionierten Parkhaus. Hinter einem Vorhang schlafen in zwei Räumen Frauen und Kinder. Der Gestank ist kaum auszuhalten, denn es kann nie durchgelüftet werden. Duschen gibt es keine, lediglich einige offene Waschbecken für Füße und Gesicht.

15 Freiwillige helfen nachts und morgens, neben ihren regulären Jobs. Alle werden verpflegt, erhalten ein paar frische Socken. Die Kosten gehen monatlich in die Tausende, doch finanzielle Hilfe kommt zunächst nur von der Caritas. Daniel Abdin gibt ein praktisches Beispiel: "Allein um die Teppiche zu reinigen, benötigen wir jeden Tag 15 Flaschen Frischluftspray, denn schließlich haben wir auch eine Verantwortung gegenüber unseren Gläubigen, die tagsüber ihren Kopf zum Beten auf dem Teppich ablegen."  Was die Freiwilligen alle überrascht und zugleich schockiert: "Die Transitflüchtlinge hinterlassen die Moschee wie ein Schlachtfeld" und der stellvertretende Imam Kamal El Said ergänzt: "Sie nutzen keine Mülleimer, lassen alles einfach so liegen, selbst die Frauen ihre Hygieneartikel", erzählt er kopfschüttelnd.

Stadt hält sich raus  

Die Hansestadt sieht diesem Treiben monatelang tatenlos zu. Obwohl die Helfer/innen vom Hauptbahnhof die Stadt mehrfach auffordern, den durchreisenden Flüchtlingen Unterschlupf zu gewähren, greift sie nicht ein. Auch die Medien berichten mehrfach über die unhaltbare Situation, die sich zudem Anfang November noch dadurch verschlimmert, dass der Weg nach Schweden immer schwieriger wird. Die Stadt fährt dieselbe Linie wie bei den so genannten Lampedusa-Flüchtlingen. Nur wer sich registrieren lässt bzw. Asyl beantragt, kann auch Schutz erhalten. Schließlich könne man die Transitflüchtlinge nicht zwingen, in Deutschland zu bleiben, heißt es hinter vorgehaltender Hand.

Anfang Dezember entspannt sich zumindest an diesem Ort die Situation. Es stranden deutlicher weniger Transitflüchtlinge am Hauptbahnhof, seitdem Schweden seine Grenzen dicht gemacht hat. Außerdem eröffnet der Paritätische Wohlfahrtsverband im Bieberhaus direkt am Bahnhof eine feste Anlaufstelle. Bis zum kommenden Sommer finanziert die Sozialbehörde die Einrichtung mit 200.000 Euro mit.

Die Transitflüchtlinge werden ironischerweise künftig dort in Ruhe schlafen können, wo lange Zeit Asylbewerber um ein Bleiberecht bangen mussten. In dem Gebäude war nämlich bis Ende der 90er Jahre die Ausländerbehörde Hamburgs untergebracht.

Immobilien händeringend gesucht

Anders als in einem Flächenland ist der Platz in Hamburg begrenzt. Weil sich die Stadt anders als beispielsweise Berlin dazu entschlossen hat, Schulen und Vereinen ihre Turnhallen zu lassen und nicht für Flüchtlinge zu öffnen, greift sie deshalb Anfang Oktober als erstes Bundesland zu einem drastischen Schritt: In der Bürgerschaft verabschieden SPD und Grünen mit den Stimmen der Linken ein Gesetz, um in dringenden Fällen Gewerbeimmobilien auch gegen den Willen der Eigentümer beschlagnahmen zu können. Das Gesetz ist bis zum Frühjahr 2017 befristet. Hamburg ist zu diesen Zeiten am Limit. Mehrere hundert Flüchtlinge müssen vor der zentralen Erstaufnahme im Freien schlafen, weil die Mitarbeiter mit der Registrierung nicht hinterherkommen. Baumärkte werden notdürftig hergerichtet, einige Flüchtlinge protestieren gegen die Zustände.

Bis heute hat Hamburg von dem neuen Gesetz keinen Gebrauch gemacht, auch deshalb nicht, weil offenbar die passenden Gebäude fehlen bzw. eine Umrüstung von leer stehenden Bürohäusern zu aufwändig und teuer wäre. Doch die Stadt ist weiterhin unter Druck. Nach Angaben einer Sprecherin des Flüchtlingskoordinators benötigt die Stadt bis Ende 2106 79.000 Unterbringungsplätze. 31.000 davon fehlen derzeit noch.

Bürgerinitiativen gegen Großunterkünfte

Um den Platzbedarf möglichst umfassend abdecken zu können und langfristig Wohnraum zu schaffen, setzt Hamburg jetzt in allen Bezirken auf Großunterkünfte für mehrere tausend Flüchtlinge. Dabei unterläuft ihr mehrmals der gleiche Fehler: Statt die Anwohner rechtzeitig über Planungen zu informieren, stellt sie diese häufig vor vollendete Tatsachen und brüskiert sie damit. Bürgerinitiativen gründen sich und fordern mehr Mitspracherecht bei der Verteilung der Flüchtlinge. Mehrmals muss die Stadt ihre ursprünglichen Planungen deshalb revidieren, kann an einer Stelle nicht so viele Menschen unterbringen wie geplant. Doch was fast allen Protestierenden gemein ist: Sie achten fast peinlich genau darauf, nicht mit Pegida in einen Topf geworfen und als Rassisten dargestellt zu werden. Vielmehr ermahnen sie die Politik, dass eine Integration einer so großen Anzahl von Flüchtlingen aus fremden Kulturen nur schwer gelingen könne.

Quartiere statt Ghettos

Der rot-grüne Hamburger Senat hält zwar an den Großunterkünften fest – ihm bleibt auch nichts anderes übrig – er greift aber die Sorgen der Anwohner in gewisser Hinsicht auf. Anfang Dezember beschließen SPD und Grüne die geplanten Großsiedlungen zu "lebenswerten Quartieren" weiter zu entwickeln. Die Bezirke, die bisher die Pläne des Senats einfach nur umzusetzen hatten, erhalten dafür finanzielle Unterstützung. Gleichzeitig soll eine soziale Infrastruktur geschaffen und aus den Unterkünften später Sozialwohnungen werden. Die Bürger sollen durch runde Tische an der Integration beteiligt werden. Zweifelsohne ein kluger Schachzug, nimmt er doch den Fingerzeig der Kritiker auf ohne zugleich die Marschroute zu verlassen.

Die Stadt ist wie alle Regionen Deutschlands von dem Ansturm der Flüchtlinge überrascht worden und hatte lange Mühe, die Menschen angemessen unterzubringen. Das liegt auch an den Fehlern der Vergangenheit, weil Vorgängersenate Unterkünfte abgerissen hatten, als die Flüchtlingszahlen zurückgingen. Daraus hat der gegenwärtige Hamburger Senat offenbar gelernt. Er setzt jetzt auf eine langfristige Integration und hat dazu auch an anderer Stelle viel auf den Weg gebracht. Nur noch in Bremen gibt es beispielsweise bisher eine Gesundheitskarte für die Flüchtlinge. In den bereits bestehenden Unterkünften wurde ein Hausarztmodell installiert. Beides Maßnahmen, um den Menschen das Ankommen zu erleichtern, Bürokratie abzubauen und gleichzeitig Kosten zu senken. Außerdem wurde, wenn auch spät, eigens ein Flüchtlingskoordinator eingesetzt, bei dem die Fäden nun zusammenlaufen sollen.

Mit ruhiger Hand und viel Engagement

Dass es sich in Hamburg nun langsam "zurecht ruckelt" und nicht mehr an allen Ecken und Enden knirscht ist jedoch nicht zuletzt den vielen ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern zu verdanken, die an vielen Stellen Versäumnisse der Politik ausgeglichen haben und den Ankommenden das Gefühl gaben, willkommen zu sein. Und sicherlich ein Stück weit auch Hamburgs Erstem Bürgermeister Olaf Scholz, der öffentlich nie hat Zweifel aufkommen lassen, dass die Stadt der aktuellen Herausforderung nicht gewachsen sein könnte.

Weitere Beiträge zur Flüchtlingspolitik in Hamburg finden Sie auf der Länderseite unseres Dossiers "Wie schaffen die das? Die Flüchtlingspolitik der Länder" (zur Startseite).