Bei den Wahlen 2021 haben 18 türkeistämmige Kandidat*innen den Einzug in den Bundestag geschafft. Oft vergessen wird hingegen, wie der Grüne Mehmet Kılıçgedik für Partizipation kämpfte und 1994 zum Bürgermeister von Bielefeld wurde.
Bei den Wahlen 2021 haben 18 türkeistämmige Kandidat*innen den Einzug in den Bundestag geschafft. Sevim Çelebi, die 1987 in das Berliner Abgeordnetenhaus gewählt wurde, war die erste, die den Migrant*innen das Tor zur Politik öffnete. Leyla Onur und Cem Özdemir folgten im Jahr 1994 Çelebi nach und gingen als erste türkeistämmige Bundestagsabgeordnete in die deutsche Migrationsgeschichte ein. Aber bei dieser Geschichtsschreibung geriet immer einer in Vergessenheit: Mehmet Kılıçgedik. Obwohl Kılıçgedik noch nicht die hierfür notwendige deutsche Staatbürgerschaft hatte, stellten ihn die Grünen 1984 als Kandidat bei den Kommunalwahlen in Bielefeld auf. Die Grünen wollten auf diese Weise dagegen protestieren, dass Migrant*innen kein Wahlrecht hatten. Die Kandidatur von Mehmet Kılıçgedik wurde abgelehnt und sein Name wurde von der Wahlliste gestrichen. Zehn Jahre später, im Jahr 1994, kandidierte Kılıçgedik, mittlerweile eingebürgert, für die Grünen erneut auf Platz eins der Wahlliste für den Stadtrat und wurde gewählt. Mehmet Kılıçgedik, der mit 17 Jahren als Gastarbeiter mit dem Zug aus Bingöl nach Deutschland gekommen war, hatte nun einen weiteren Titel: HERR BÜRGERMEISTER.
Banu Acun: Wann sind Sie nach Deutschland gekommen?
Mehmet Kılıçgedik: Vor genau 50 Jahren. Am 11. Januar 1971 um 22:30 stieg ich in Bielefeld aus. Sie brachten uns gleich ins Heim. Am nächsten Tag ging ich in die Fabrik arbeiten. Ich hatte nicht einmal Istanbul gesehen.
Sie sind direkt aus der kleinen kurdischen Stadt Bingöl nach Bielefeld gekommen?
Ja, ich bin direkt aus Bingöl gekommen. Ich war noch nicht einmal 18 Jahre alt. Als ich in den Zug stieg, sagte ein betrunkener Mann: “Ich werde dich heute Abend hier aufessen” und ich war noch so jung, dass ich dem Mann das wirklich glaubte.
Ich weinte so sehr im Zug, dass alle Mitreisenden versuchten, mich zu trösten: “Weine nicht, du bist sehr jung und dunkelhäutig. Es gibt einen Ort, der Bahnhof heißt. Wenn du dort ankommst, werden die deutschen Frauen dich mit einem Mercedes Taxi abholen.” In Bingöl gab es damals keine Autos, geschweige denn Taxifahrerinnen. Ich kam am Bahnhof an, sah auch die Frauen mit ihren Mercedes, nur wusste ich nicht, dass es wirklich Taxen sind.
Als was haben Sie gearbeitet?
In einer Maschinenfabrik. Ich wollte Ingenieur werden, schrieb mich auf der Fachhochschule ein, dann brach ich das Studium ab. Ich wollte ja die Revolution machen, da blieb keine Zeit fürs Studieren! Später habe ich mich entschieden, Sozialarbeiter zu werden. Meinen Fachhochschulabschluss habe ich 1985-86 gemacht.
Es war wohl nicht so leicht, die Vorstellung von der Revolution aufzugeben?
Wir wollten eine schöne Türkei aufbauen, in der alle in Brüderlichkeit leben können. Besser gesagt, wollten wir durch die Revolution den Sozialismus in der Türkei aufbauen, dorthin zurückkehren und ein besseres Leben haben. Nach einiger Zeit merkten wir jedoch, dass wir älter wurden, dass wir nicht mehr zurückkehren können. Ich begann um 1982 herum, so langsam diese Realität zu akzeptieren. Ich verstand, dass wir nunmehr in Deutschland leben und uns den Lebensbedingungen hier anpassen und ein Teil des politischen Lebens in Deutschland werden müssen. Dies war zu einem Zeitpunkt, als Rassismus und Ausländerfeindlichkeit erstarkt waren.
Wie haben Sie die Grünen kennengelernt?
Wir haben 1982 in Bielefeld einen Verein gegründet, das Internationale Friedenshaus. In diesem Friedenshaus waren im Grunde alle Nationen vertreten. Jeder und jede ging in seinen eigenen Verein, aber das Friedenshaus war ein Treffpunkt für alle. Es war aber nicht nur ein Treffpunkt, sondern auch ein Ort für Bildungsarbeit, kulturelle Aktivitäten und für politische Diskussionen zum Thema Migration. Ich war damals schon lange aktiv gewesen. Die Grünen standen uns politisch näher, weil in ihnen nach der Auflösung der K-Gruppen, also der linken Gruppen, die Umweltaktivistin*innen zusammengekommen waren, um eine neue Partei oder eine neue Initiative zu gründen. Daher haben die Grünen mich im Jahr 1984 an die Spitze ihrer Liste für die Kommunalwahlen gesetzt, um auch das Recht gewählt zu werden und wählen zu können, auf die Tagesordnung zu bringen. Die Kandidatur war symbolisch. Mir fehlte die hierfür notwendige deutsche Staatsbürgerschaft.
Haben die Grünen Sie wirklich im Wissen aufgestellt, dass ihre Kandidatur abgelehnt werden wird?
Es gab einen Ausländerbeirat, der unterstand der Sozialverwaltung. Der Beirat hatte keine Durchsetzungsmacht, er durfte nur Empfehlungen für die Parteien und die Kommunalverwaltungen aussprechen. Sie sind unnötige, nutzlose Organe. Heute wurden sie in Integrationsräte umbenannt – und auch heute werden wir nicht als Wähler*innen angesehen. Wir Migrant*innen, die sich bewusst mit der Politik auseinandersetzten, waren der Meinung, die Ausländerbeiräte seien nicht die Lösung des Problems, sondern an erster Stelle müsse die Wahlberechtigung und die Wählbarkeit stehen, um in den Kommunalverwaltungen ein Mitbestimmungsrecht zu erlangen. Und wir arbeiteten in Bielefeld gemeinsam mit den Grünen aktiv auf dieses Ziel hin. Damals gab es das Direktmandat in dieser Form noch nicht. So versuchten die Grünen, soweit es ihnen möglich war, den von ihnen für wichtig gehaltenen Personen einen Listenplatz zu geben, der ihre Wahl garantierte. Mich haben sie, als ihren Beitrag zu diesen politischen Forderungen, an die Spitze der Liste gesetzt.
1991 sind Sie deutscher Staatsbürger geworden. Danach haben die Grünen Sie wieder aufgestellt.
Ich hatte nach meiner Einbürgerung weiterhin eine Verbindung zu den Grünen. Im Jahr 1994 standen Wahlen an und sie fragten mich: “Machst du mit?” Ehrlich gesagt, habe ich mich zuerst nicht getraut. Als erstes fragte ich mich, ob ich diese Herausforderung meistern kann. Als Zweites kam die Frage auf, was wohl die unseren, die Migrant*innen, und was die Deutschen dazu sagen würden. Mitten in solch einer Diskussion, ganz ehrlich, so nach ein, zwei Gläsern Wein, sagte ich ja.
Wie hat die deutsche Bevölkerung auf Ihre Wahl zum Bürgermeister in Bielefeld 1994 reagiert?
Einmal war ich mit meiner Tochter im Schwimmbad. Ich lauschte der Unterhaltung von einigen Deutschen: “Hast du gehört, dass die Grünen einen muslimischen Türken aufgestellt haben. Konnten die keinen anderen finden?”, und ähnliches wurde geredet. Ich bekam Drohbriefe. Es gab Leserbriefe in den Zeitungen, die ungefähr den Tenor hatten, habt ihr keinen anderen finden können.
Dann waren nicht nur Sie, sondern alle herausgefordert, oder?
Weder die Partei war auf so etwas vorbereitet noch ich, noch die Gesellschaft. Das alles kam erst nach und nach. Zum Beispiel konnte keiner meinen Nachnamen aussprechen. Weshalb ich mich statt Kılıçgedik mit Kilickowski vorstellte. Kilickowski hört sich ja Slawisch an und war den Deutschen geläufiger. Manchmal griff ich aber nicht ein und wartete, dass sie meinen Namen aussprechen. Und manchmal sagte ich auf Deutsch: “Übung macht den Meister”. Sie mussten verstehen, dass nicht alle, die hier leben, Helga Müller oder Detlef Bernd heißen. Ich finde, dass ich damit Erfolg hatte. Nach mir haben viele junge, begabte Menschen in ganz Deutschland auf kommunaler Ebene kandidiert und haben sogar den Mut gezeigt, für den Bundestag anzutreten. Das war wirklich eine sehr schöne Entwicklung.
Sie passten aber so gar nicht in das Bild des Bürgermeisters in den 90er Jahren in Deutschland.
Nach den Wahlen fand eine Demonstration der PKK statt. Ein Journalist bat mich einzugreifen, damit es nicht eskaliert. Daraufhin durchbrach ich den Kessel und ging zu den Demonstrant*innen. Einer von ihnen redete. Ich sagte ihm “Schau, ich bin der Bürgermeister.” Woraufhin er erwiderte: “Und ich der Bundeskanzler.” Zur gleichen Zeit versuchte die Polizei, mich festzunehmen. Ich hatte nichts dagegen, was sollte schon passieren? Am Ende ließen sie mich doch gehen, weil der Journalist kam und eingriff. Später soll der Polizeipräsident mein Foto den anderen Polizist*innen gezeigt und befohlen haben, dass sie mich, wo sie auch auf mich treffen, nicht festnehmen. Ich könne überall auftauchen und sei etwas überdreht. Er soll den Polizist*innen, insbesondere den Streifenpolizist*innen, mein Foto gezeigt haben, damit sie mich bei Vorfällen nicht fälschlicherweise festnehmen.
Sie hatten aufgrund Ihrer Stellung auch viel Kontakt mit den schon seit Generationen einheimischen Bielefeldern, oder?
Die Stadtverwaltung Bielefeld lässt den Bielefeldern, die ein bestimmtes Alter erreicht haben, persönlich Blumen und einen Brief überbringen. Jedes Mal, wenn ich hinging, war mein Fahrer dabei. Alle gingen zu dem deutschen Fahrer und bedankten sich bei ihm. Der arme Mann zeigte dann jedes Mal auf mich und sagte, ich sei der Bürgermeister. Vor einem 90-jährigen Mann steht ein Schwarzkopf als Bürgermeister. Sie wollten es nicht glauben, sie nahmen mich nicht ernst. Und ich dachte, was soll‘s. Mein Fahrer fragte mich nach einiger Zeit, ob es denn nicht besser wäre, wenn er im Auto auf mich warte? Ich sagte: “Nein, Sie sollten immer dabei sein, damit wir gemeinsam darüber lachen können.”
Bielefeld ist gleichzeitig eine Stadt mit viel Migration. Haben die Migrant*innen, insbesondere die Türkeistämmigen, Sie anders als die Deutschen behandelt?
Ehrlich gesagt, haben die nach einem Bürgermeister, wie sie ihn aus der Türkei kennen, Ausschau gehalten. Wenn jemand Bürgermeister ist, dann findet er seiner Klientel mit einem Anruf eine Mietwohnung, eine Arbeitsstelle usw. Damals habe ich mit dem Gedanken gespielt, zuallererst für die Türkeistämmigen eine Broschüre über meine Aufgabenfelder zu veröffentlichen. Ihre Erwartungen waren zu unterschiedlich. Ich hatte vor allem die Schulen in den Fokus genommen. Ich ging zu den Schulen, versuchte mit den Jugendlichen Kontakt aufzunehmen, sie zu ermutigen und sie in die politischen Strukturen einzubinden. Ich diskutierte auch mit den Migrant*innenvereinen darüber, dass es zwar wichtig ist, exilpolitisch tätig zu sein, aber wir nicht vergessen sollten, dass wir ein Teil dieser Gesellschaft sind. Ich denke, dass sich nach einiger Zeit alles eingerenkt hat. Die Migrant*innen haben sich daran gewöhnt, dass ich nicht solche Befugnisse hatte, wie die Bürgermeister in der Türkei, dass ich nicht Liegenschaften kaufen und verkaufen kann, und dass nicht Profit aus meiner Stellung schlagen werde.
Sie waren vor fast 30 Jahren Bürgermeister. Was sehen Sie, wenn Sie zurückschauen? Was bedeutet das für Sie heute?
Während der Pandemie war ich bei einem Arzt. Ich trug eine Maske, aber der Arzt erkannte mich aufgrund meines Namens. Er sagte: “Sie erinnern sich wahrscheinlich nicht an mich. Sie waren schon gewählt und die Lehrer wollten mich nicht am Gymnasium aufnehmen. Sie haben damals mit meinem Vater gemeinsam dafür gekämpft, dass ich aufs Gymnasium komme und ich kam aufs Gymnasium. Jetzt stehe ich als Arzt vor Ihnen.” Als ich das hörte, war ich so stolz. Verstehen Sie das? Man wird ein Teil des Lebens eines jungen Menschen, der nicht aufs Gymnasium soll, und dem begegnet man nach 30, 40 Jahren wieder. Die Jahre vergehen, ich treffe auf jemanden, der mich wiedererkennt. Und wenn ich wiedererkannt werde, denke ich, also hast du doch etwas Gutes bewirken können. Wenn ich zurückschaue, sage ich mir, dass ich es hätte besser machen können. Auf der anderen Seite sollte man das, was man geschafft hat, auch nicht herunterspielen. Im Grunde war es so, dass jemand diese Aufgabe einmal übernehmen musste und ich habe sie übernommen und den Weg für andere bereitet. Die Deutschen haben gesehen, dass es kein Übel ist, im Gegenteil, dass es zum gemeinsamen Miteinander dazu gehört. Und ich glaube, dass es Migrant*innen ermutigt hat, sich einzubringen.
Aus dem Türkischen von Elif Amberg.
>> Zur türkischen Version des Artikels auf der Webseite unseres Büros in Istanbul.