„Der Verlust der Artenvielfalt bedroht uns Menschen, unsere Lebensgrundlage und unseren Wohlstand existenziell“, sagt der Bundestagsabgeordnete Jan-Niclas Gesenhues. Er ist umweltpolitischer Sprecher der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Deutschen Bundestag. Vor der bevorstehenden UN-Biodiversitätskonferenz (COP 15) in Montreal haben wir ihm einige Fragen zum Zusammenhang von Klima- und Biodiversitätskrise, zu Wirtschaftsmodellen, die soziales und ökologisches Wohlergehen berücksichtigen, und nachhaltigeren Konsummustern gestellt.
Anfang Dezember 2022 findet in Montreal die COP 15 - die Biodiversitätskonferenz - statt. Das dramatische Artensterben ist vielfach belegt. Derzeit sind eine Million Arten vom Aussterben bedroht. Welche wichtigen Impulse erwartest du dir von der Konferenz, insbesondere im Hinblick auf ein neues UN-Abkommen zum Erhalt der biologischen Vielfalt, welches in Montreal verabschiedet werden soll? Was sind die Ziele und Vereinbarungen, für die sich Deutschland und die EU besonders stark machen möchte?
Ich bin froh, dass die Weltnaturschutzkonferenz dieses Jahr, nach mehreren pandemiebedingten Absagen, endlich stattfindet. Sie bietet uns eine der letzten Chancen, eine globale Antwort auf die zweite große ökologische Krise unserer Zeit zu finden, bevor es zu spät ist. Von den acht Millionen Tier- und Pflanzenarten weltweit sind eine Millionen Arten vom Aussterben bedroht. Das ist eine dramatische Zahl mit fatalen Auswirkungen. Denn jede Art hat ihren Platz in der Natur, und so sind ganze Nahrungsketten und Ökosysteme durch das Artensterben bedroht. Für uns Menschen bedeutet das, dass auch unser aller Lebensgrundlage und unser Wohlstand durch den Verlust der biologischen Vielfalt existenziell bedroht ist.
Angesichts dieser dramatischen Lage brauchen wir in Montreal einen „Paris-Moment“ für die Natur. Es muss einfach gelingen, ein ambitioniertes globales Abkommen zum Schutz der biologischen Vielfalt zu schmieden. Bei den Vereinten Nationen in New York hat Deutschland bereits zugesagt, bis 2025 die Mittel zur Finanzierung des globalen Biodiversitätsschutzes auf jährlich 1,5 Milliarden Euro zu erhöhen, was ungefähr einer Verdopplung des Etats entspricht. Dies ist ein starkes Zeichen an die Weltgemeinschaft. Ich erhoffe mir, dass nun andere Länder nachziehen und ambitionierte Finanzierungszusagen treffen. Ein weiteres Ziel in Montreal ist es, weltweit 30 Prozent der Land- und Meeresfläche bis 2030 unter Schutz zu stellen. Dabei sind wir insbesondere auch auf das Wissen und die Unterstützung von indigenen Gemeinschaften angewiesen, auf deren Land sich ein großer Teil der biologischen Vielfalt befindet. Sie zeigen uns schon vielfach durch ihr Leben im Einklang mit der Natur, wie wir Biodiversität erhalten können.
Die Biodiversitätskrise zwingt die gesamte internationale Gemeinschaft zum kollektiven Handeln. Gleichzeitig erschweren geopolitische Spannungen effektives multilaterales Vorgehen. Die diesjährige COP 15 steht unter der Präsidentschaft Chinas. Wie kann ein ambitioniertes Abkommen und Umsetzungskonzept in Zeiten multilateraler Fragmentierung gelingen?
Natürlich zeigt uns nicht zuletzt der russische Angriffskrieg Russlands in der Ukraine oder die teils aggressive Interessenpolitik Chinas zulasten der Menschenrechte, dass die multilaterale und wertebasierte Weltordnung mindestens im Wanken ist. Das macht internationale Verhandlungen nicht leichter. Gleichzeitig ist der Biodiversitätsverlust ein globales Problem, das gemeinsam zu lösen im Interesse aller rationalen Menschen sein müsste. Auch in China wissen die Regierenden, dass 75 Prozent der bei Menschen neu auftretenden Infektionskrankheiten ursprünglich von Tieren auf Menschen übertragen wurden. Die jüngsten Corona-Lockdowns in China weisen dort aufs Neue darauf hin, dass Biodiversitätsschutz auch Bevölkerungsschutz ist. Wenn es gelingt, unser gemeinsames Schicksal hervorzuheben und die Verantwortung gerecht aufzuteilen, kann auch in einer instabilen Welt ein starkes gemeinsames Biodiversitäts-Abkommen entstehen.
In einer Bundestagsrede hast du vor einigen Wochen am Beispiel des antarktischen Weddellmeers eindrucksvoll dargelegt, wie Klima- und Biodiversitätskrise ineinander verwoben sind, da durch den Klimawandel destruktive Kettenreaktionen in den Ökosystemen angestoßen werden, bzw. Veränderungen in den Ökosystemen Auswirkungen auf das Klima haben. Trotzdem scheint die Biodiversitätskrise in punkto Aufmerksamkeit im Schatten der Klimakrise zu stehen. Wie gelingt es uns diesen Themen integrierter zu behandeln und gleichzeitig mehr politische und gesellschaftliche Aufmerksamkeit auf das Thema zu lenken?
In meiner Bundestagsrede habe ich anhand eines Beispiels beschrieben, wie Klima- und Biodiversitätskrise eng miteinander verflochten sind. Die Erderwärmung führt zur weiteren Versauerung der Meere. Im antarktischen Weddellmeer können dadurch große Krillvorkommen wegsterben. Das wiederum hat zur Folge, dass Fische bis hin zu Walen sterben und damit ganze Nahrungsnetze zusammenbrechen. Das zeigt, wie die Klimakrise dazu beiträgt, dass auch die Biodiversitätskrise weiter eskaliert und die Aussterbekatastrophe bei den Arten weiter zunimmt.
Auf der anderen Seite führt aber das Sterben des Krills auch dazu, dass die sogenannte Kohlenstoffpumpe ausfällt: Normalerweise frisst der Krill kleine kohlenstoffhaltige Mikroalgen im Wasser, die dann verstoffwechselt auf den Meeresboden sinken und dort dann über Jahrzehnte als Kohlenstoff gebunden werden. 35 Prozent des Kohlendioxids aus dem Wasser werden über diese biologische Kohlenstoffpumpe langfristig gebunden. Mit der Klimakrise stirbt nun also durch Versauerung der Krill, die Kohlenstoffspeicherung der Meere fällt aus und der freigesetzte Kohlenstoff heizt den Planeten weiter auf. Wir haben es hier also mit sich gegenseitig verstärkenden Zwillingskrisen zu tun. Keine von beiden kann ohne die andere gelöst werden. Daher müssen wir in Montreal ein starkes Artenschutz-Abkommen erreichen, das die fatalen, sich gegenseitig verstärkenden, Spiralen durchbrechen kann.
Als die Klimakonferenz 2015 das Pariser Klimaabkommen hervorbrachte, war das ein historischer Moment, der um die Welt ging. Die Biodiversitäts-COP in Montreal ist daher auch eine große Chance, die Biodiversitätskrise ins öffentliche Rampenlicht zu rücken. Vielen Menschen sind die katastrophalen Konsequenzen der Klimakrise mittlerweile bewusst. Bei der Debatte um Biodiversitätsschutz hingegen sind wir gefühlt oft noch da, wo wir mit der Klimakrise vor zehn Jahren beim Lebensraumverlust von Eisbären waren. Beim Biodiversitätsschutz geht es aber auch dieses Mal nicht nur um einzelne liebgewonnene Arten, sondern letztendlich ebenso um unsere eigenen Lebensgrundlagen.
Anfang 2021 wurde im Vorfeld des ersten Verhandlungsteils der COP 15 der Bericht „The Economics of Biodiversity: The Dasgupta Review“ veröffentlicht, der für ein radikales Umdenken in Wirtschaft und Finanzwirtschaft argumentiert, mit dem Ziel, Naturkapital in unsere volkswirtschaftlichen Berechnungen zu integrieren. Dahinter steht die Forderung nach sozial-ökologisch inklusiveren Messgrößen für wirtschaftliches Wachstum. Findet diese Debatte aus Deiner Sicht politisch ausreichend statt und welche Ansatzpunkte gibt es?
Neben ihrem intrinsischen Wert kann man der Natur aus ökonomischer Sicht auch gigantische Ökosystemdienstleistungen zurechnen. Intakte und biodiverse Ökosysteme versorgen uns mit frischer Luft zum Atmen und sauberem Trinkwasser, stabilisieren das Weltklima oder stellen uns fruchtbare Böden für die Nahrungsmittelproduktion zur Verfügung. Eine Gruppe Wissenschaftler*innen um Robert Costanza von der Australian National University in Canberra hat versucht, den Wert all dieser Leistungen ökonomisch auszurechnen: Für 2011 kamen sie auf den unglaublichen Wert globaler Ökodienstleistungen in Höhe von 125 Billionen US-Dollar im Jahr! Das weltweite BIP war demgegenüber damals nur etwa halb so groß. Gleichzeitig schätzten die Forscher*innen den Verlust von Ökodienstleistungen zwischen 1997 und 2011 auf 4,3 bis 20,2 Billionen US-Dollar pro Jahr. Durch den achtlosen Umgang der Menschheit mit der Natur entsteht also auch ein enormer ökonomischer Schaden.
Politisch gesehen besteht auf diesem Gebiet noch großer Handlungsbedarf. Die Vereinten Nationen haben zwar 2021 vorgeschlagen, Ökosystemdienstleistungen in die Berechnung des Bruttoinlandsprodukts mit einzubeziehen, um die Leistungen der Natur neben der menschlichen Produktivität in der Wirtschaftsleistung zu erfassen. Ebenso gibt es Vorschläge, einen internationalen Zahlungsmechanismus einzuführen, der denjenigen Ländern für den Erhalt ihrer Ökosystem zugutekommt, auf deren Ökosystemen wir alle angewiesen sind. Aber diese Ansätze stecken noch in den Kinderschuhen. Deswegen müssen wir die Instrumente dafür schaffen, dass sich die Ausbeutung von Natur ökonomisch schlicht und einfach nicht mehr rechnet. Dafür müssen Preise von Waren und Dienstleistungen endlich auch die ökologische Wahrheit sagen. Auch umweltschädliche Subventionen, die sich weltweit auf circa fünf Billionen US-Dollar pro Jahr belaufen, müssen dringend abgebaut werden. Je länger das nicht gelingt und Ökosysteme weiter ohne Konsequenzen für die Verursacher*innen degradiert werden, desto höher werden die Anpassungs- und Wiederherstellungskosten für unsere wertvolle Natur.
In vielen so genannten „Entwicklungsländern“ ist es das Naturkapital, welches einen Großteil der wirtschaftlichen Produktivität sichert. In diesen Teilen der Erde sind es häufig Frauen, die zum Erhalt dieses Kapitals beitragen und gleichzeitig besonders stark auf den Ertrag angewiesen sind. Welche Rolle spielt eine „feministische Umweltpolitik“ für die diesjährigen Verhandlungen und wie blickst Du auf dieses Thema?
Ich denke, dass wir auf alle Politikfelder mit einem geschlechtersensitiven Blick schauen sollten, so auch auf die Umweltpolitik. Frauen und Mädchen übernehmen oftmals Aufgaben in der Gesellschaft, die sie anfälliger für Umweltrisiken machen. Gleichzeitig ist die Stärkung von Frauen ein entscheidender Faktor zur Armutsbekämpfung und damit für die nachhaltige Nutzung von Ressourcen, die sich arme Menschen oft nicht leisten können. In Montreal wird es daher wichtig sein, Genderaspekte in allem mitzudenken. Darauf aufbauend soll ein neuer Entwurf des „Gender Plan of Action“ zur Konvention der biologischen Vielfalt entstehen. Nur wenn Rechte von Frauen, ihr Zugang zu Ressourcen und ihre Repräsentation weltweit verbessert werden, bekommen wir auch eine gerechte Nutzung unserer Lebensgrundlagen im Einklang mit der Natur hin, davon bin ich überzeugt.
Dieses Jahr war der so genannte „Earth Overshoot Day“, der Tag an dem wir als Weltgemeinschaft so viel Ressourcen verbraucht haben, wie die Natur innerhalb eines Jahres regenerieren kann, am 28. Juli 2022 erreicht. Deutschland überschritt diese traurige Grenze bereits am 4. Mai und die USA am 13. März. Insbesondere die USA werden immer wieder als Überflussgesellschaft beschrieben, in welcher der Konsumgedanke im Mittelpunkt steht. Wie siehst Du die Verantwortungsteilung zwischen dem einzelnen Konsumenten/der Konsumentin, der Wirtschaft und der Politik?
Jeder Mensch kann einen konkreten Beitrag zum Schutz der Biodiversität leisten. Wir können beispielsweise darauf verzichten, Fischöl-Nahrungsergänzungsmittel zu kaufen, die auf Krill basieren und die Überfischung der Weltmeere weiter antreiben, um das Thema von vorhin wieder aufzugreifen.
In meinem Verständnis ist aber auch klar, dass die Hauptverantwortung bei der Politik und bei der Wirtschaft liegt. Hier müssen die Aussterbekatastrophe und die Klimakatastrophe ganz oben auf der Agenda stehen und hier müssen die Rahmenbedingungen geschaffen werden. In einer Welt, die uns mit einer Informationsflut oft schier überwältigt, bin ich der Meinung, dass sich die Verbraucher*innen oft auch wünschen, dass ihnen Entscheidungen von der Politik leichter gemacht werden. Wenn zum Beispiel universell verbindliche Umweltstandards für Palmöl gelten würden, dann müssten sich die Verbraucher*innen beim Kauf eines Produkts schon um ein Kriterium weniger den Kopf zerbrechen.
Auf deinem Twitter Profil steht in deiner Kurzbeschreibung als erstes „Papa“. Unsere Kinder werden viele Arten und Naturräume, die es heute noch gibt, nicht mehr kennen lernen. Trotzdem können wir den Kopf nicht in den Sand stecken. Was motiviert Dich persönlich und gibt es auch Dinge, die dich aktuell in Bezug auf Fragen von Umwelt und Naturschutz hoffnungsvoll stimmen?
Schon in meiner Kindheit habe ich viel Zeit mit Streifzügen durch Wiesen und Wälder rund um meinen Heimatort verbracht. Bis heute verspüre ich eine tiefe Wertschätzung für unsere vielfältige Umwelt. Ich möchte, dass wir kommenden Generationen unsere Welt so überlassen können, dass auch sie diese Begeisterung und Wertschätzung für die Natur erleben können. Daraus schöpfe ich Motivation.
In Deutschland, wo wir Grüne nun in der Bundes- und vielen Landesregierungen beteiligt sind und unter anderem das Umweltministerium leiten, sehe ich viele Entwicklungen, die mich positiv stimmen. Gerade erst wurde das „Aktionsprogramm Natürlicher Klimaschutz“ – ausgestattet mit im ersten Schritt vier Milliarden Euro – auf den Weg gebracht, das in Deutschland Natur- und Klimaschutz miteinander vereint. Solch ein Programm war vor ein paar Jahren noch kaum denkbar. Aber auch weltweit entsteht ein neues Bewusstsein für unsere Umwelt, das junge und ältere Menschen in die Parlamente tragen. Ich glaube, Umweltschutz ist ein Thema, das vereinen kann, denn wir alle sind auf die Erde als funktionierenden Planeten angewiesen. Langsam aber sicher begreifen das auch wieder immer mehr Menschen.